Samstag, 19. Juni 2010

Debatte: Mythos Multi-Channel? - Web-Exzellenz ist das Schlüsselthema für erfolgreiche Händler

In den vergangen Wochen gab es in deutschen E-Commerce-Blogs spannende Diskussionen zum Thema Multi-Channel. Kernthema war die Frage:
„Ist ein Multi-Channel-Konzept ein Erfolgskonzept für den Handel?“

Heute möchte ich auch etwas zu dieser Debatte beitragen.
Doch der Reihe nach - was ist der Stand der Diskussion:

Jochen Krisch eröffnete in Exciting Commerce die Debatte mit der Frage „Multi-Channel-Händler als Verlierer im E-Commerce?“ - einen Beitrag über den Schweizer E-Commerce-Report 2010, der Multi-Channel-Strategien als Wachstumsbremse beschreibt: „Unternehmen haben erfahren, dass ihnen Wettbewerber Marktanteile abnehmen, wenn sie selbst den Onlinekanal nur halbherzig vorantreiben“ (Management Summary als PDF). Er folgerte:

„Im Gegensatz zu gesättigten Märkten ist in Wachstumsmärkten die Fokussierung auf den wachstumstreibenden Kanal entscheidend für den Erfolg. Das zeigen die Zahlen zwar schon lange, das hat die Branche aber bisher nicht davon abgehalten, am Multi-Channel-Mythos festzuhalten.
(…)
Bleibt zu hoffen, dass der Sinneswandel anhält (…) und der Handel endlich beginnen kann, an geeigneteren Geschäftsmodellen zu arbeiten und tragfähige Online-Strategien zu entwickeln.“
Alexander Graf hat darauf aufbauend in der Kassenzone unterschiedliche Punkte der Diskussion gegenübergestellt und schlussfolgert:
„Ich würde Jochen zustimmen wenn er sagt, dass Multichannel gegen Online verliert. (…) Zudem ist es deutlich schwerer für marktgerecht träge agierende Offline Unternehmen sich dem Online Markt zu nähern, als für wettbewerbsgeplagte agile Online Unternehmen mal eben einen Store zu eröffnen. Dann ist man zwar bi-channelig unterwegs, aber man verfolgt noch lange keine Multichannel Strategie.

Wes heißt das nun? Ich kann mir gut vorstellen, dass langfristig die Unternehmen erfolgreich sind die tatsächlich mehrere Kanäle bedienen können, weil sich bestimmte Synergie/Skaleneffekte einstellen die kanalisoliert kaum machbar sind. Das setzt allerdings Exzellenz in allen “Kanälen” voraus. Ein mittelmäßiger Store und eine mittelmäßige Website sind am Ende ein schlechtes Ergebnis, weil man auf beiden “Kanälen” verliert.“
Auch Martin Groß-Albenhausen brachte im Mailorder-Blog weitere Argumente:
„Multichannel ist eine Chimäre. Meistens jedenfalls.
(…)
Jeder Kanal hat seine eigenen Regeln. (…)Wir reden also über komplette und komplexe Vertriebsmodelle, nicht über Kanäle. Deshalb muss der Händler sich entscheiden, welches das Geschäftsmodell der Zukunft für ihn ist. Der Katalog? Der Onlineshop? Der Laden?

Multichannel ist keine Entschuldigung dafür, eine strategische Wahl zu unterlassen
(…)
Multichannel ist eine Ausschöpfungs-, keine Wachstumsstrategie

Ein Argument lautet, dass das Internet ein Wachstumsmarkt sei. Während man in gesättigten Märkten auf mehrere Kanäle setzen könne, müsste man in wachsenden Märkten die Kräfte bündeln. Dabei bewegt sich Onlinehandel im "Markt" des Einzelhandels. Das für Retail verfügbare Einkommen wird aber in den nächsten Jahren immer geringer. Das Internet expandiert - in einem schrumpfenden Markt.
(…)
Jemand, der in seinem etablierten Geschäft im Wettbewerb das Nachsehen hat, muss sich heute fragen, ob er ein müdes Pferd weiterreiten soll - oder auf ein frisches Pferd umsteigt. Das kann für einen stationären Einzelhändler ein neues stationäres Konzept sein. Oder ein entschiedenes Online-Konzept. Beides gleichzeitig ist fast nicht machbar. Ganz oder gar nicht.“
Martin Meinrenken geht in seinem Gastbeitrag „Katalog und Internet im Modehandel. Nur zwei unterschiedliche Kanäle?“bei in Shopanprobe auf die Unterschiede in den Prozessen und Anforderungen zwischen dem Katalogversandhandel und dem E-Commerce anhand konkreter Beispiele entlang der Wertschöpfungskette ein und folgert:
„Die Beispiele zeigen, wie stark sich die beiden Geschäftsmodelle eCommerce und Katalogversandhandel unterscheiden, obwohl beide zum Distanzhandel gehören. Würde man noch die Unterschiede bzgl. der System-Anforderungen (von Auswirkungen von Social Commerce-Faktoren wie Kunden-Partizipation möchte ich gar nicht erst anfangen) betrachten, ergäbe sich noch ein viel signifikanteres Bild. Die mit der Überschrift gestellte Frage ist also eindeutig mit Nein zu beantworten: Katalog und Internet sind weit mehr als nur unterschiedliche Kanäle, beides sind eigene Geschäftsmodelle. Um im eCommerce erfolgreich zu sein, braucht es andere Prozesse, Denkweisen und letztlich auch Menschen mit dem passenden Know How.“
Jochen Krisch führt die Debatte in „Das Ende der Multi-Channel-Doktrin für Online-Versender“ noch mal weiter:
„…denn die Musik spielt natürlich weiter online. Und wer dort ernsthaft punkten will und mit Amazon & Co. mithalten will, der muss sich entscheiden.
(…)
Multi-Channel wird zunehmend als das wahrgenommen, was es ist: ein probater Einstieg in den Online-Handel, aber unterm Strich allenfalls die zweitbeste Alternative, um im E-Commerce dauerhaft erfolgreich zu sein.“
In allen Beiträgen wird deutlich, dass sich der Online-Handel deutlich vom klassischen Kataloghandel und auch vom stationären Handel unterscheidet. Der zukünftige Erfolg im Handel wird immer stärker durch eine entschiedene und erfolgreiche Online-Strategie entschieden. Wer von allem etwas ein bisschen macht, ist nicht erfolgreicher, sondern wird weiterhin Marktanteile verlieren.

Aus meiner Sicht ist für klassische Katalogversender die Frage - ob sie E-Commerce machen oder nicht - obsolet geworden. Jeder Katalogversender, der heute nicht mit voller Konzentration den Online-Handel vorantreibt, wird kurz- oder mittelfristig vom Markt verschwinden. Und selbst für stationäre Händler hat E-Commerce eine immense Bedeutung, da durch den Online-Handel der gesamte Handel revolutioniert wurde. Somit ist die strategische Kernfrage für jeden Händler: Wie können wir Exzellenz im Web erreichen?

Um diesen Standpunkt zu verdeutlichen, möchte ich hier - mit freundlicher Genehmigung des Gabler Verlags - einen Ausschnitt aus meinem Beitrag im Buch „Web-Exzellenz im E-Commerce: Innovation und Transformation im Handel" bringen, dass im April erschienen ist.

Mythos Multi-Channel? - Web-Exzellenz ist das Schlüsselthema für erfolgreiche Händler

Das Web hat die bisherigen Spielregeln des Handels völlig verändert. Alle bestehenden Handelsunternehmen sind dadurch mehr und mehr gezwungen, sich neu zu definieren, wenn sie auch langfristig erfolgreich sein wollen. Grundlegend für diese Neudefinition ist ein profundes Verständnis von den Transformationen, die das Internet für den Handel auf der Marktseite und im Kundenverhalten mit sich gebracht hat.
Die wichtigsten Transformationen, durch die das Internet den Handel revolutioniert hat, in der Zusammenfassung:

  • Als sich Mitte der 90er Jahre die ersten Online-Shops im Internet zeigten, glich dies einer Sensation. Online-Shops galten als neue Vertriebskanäle und wurden als Modifikation des klassischen Versandhandels gesehen. Die letzten Jahre offenbarten sehr deutlich, wie falsch diese Einschätzung war.
  • Das Internet repräsentiert, anders als damals angenommen, keinen neuen Vertriebskanal, sondern definiert als disruptive Technologie den gesamten Handel neu: Neue Geschäftsideen schaffen eine neuartige Welt des Einkaufs. Im E-Commerce bieten neue Wettbewerber ein deutlich umfangreicheres Angebot an. Völlig neue Sortimente erzielen stark wachsende Marktanteile. Long-Tail-Angebote werden erstmals rentabel verkauft und bieten dem Händler sogar höhere Margen. Hersteller, vertikale oder stationäre Händler sowie andere neue Anbieter verschärfen den Wettbewerb. Neue Shoppingformate schaffen online neue Arten des Verkaufens.
  • Zusätzlich werden Wertschöpfungsstufen des Handels von Spezialisten übernommen, so dass Händler eine neue Rolle übernehmen. Es zeigt sich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre im Internet zu einer vollständigen Entkoppelung der einzelnen Wertschöpfungsstufen des Handels geführt haben. Einzelne Handelsfunktionen werden entkoppelt und von Spezialisten übernommen. Die dadurch sinkende Bedeutung des Handels erfordert einen deutlichen Strategiewechsel: Die Entkoppelung der Wertschöpfungskette hat den Handelsunternehmen wesentliche wertschöpfende Aktivitäten in allen Funktionen – inbesondere in den Kernfunktionen des Sortiments- und Informationsmanagements – abgenommen. Dem Handel bleiben heute somit keine Zufluchtsstätten mehr, in denen er eine dominierende Rolle oder ein Alleinstellungsmerkmal innehaben kann. Durch diese stark reduzierte Rolle des Handels verliert dieser für den Kunden an Bedeutung und die Kundenbindung sinkt. Allerdings verhalten sich die traditionellen Einzelhändler und Multichannel-Händler noch überwiegend so, als ob sich hinsichtlich der Rolle des Handels nichts geändert hat. Einkäufer bestimmen mit vermeintlicher Sortimentskompetenz immer noch das Sortiment, das sich nach wie vor an einer „introvertierten“ Renner-Logik orientiert und einem Geschäftsmodell mit begrenzten Angebotsflächen Tribut zollt.
  • Eine steigende Zahl der Internet-Nutzer verlagert soziale Kontakte und Kommunikation ins Internet und findet dort Inspirationen und Kaufimpulse. Umfangreiche online vorhandene Informationen werden immer stärker von anderen Usern generiert und beeinflussen die Kaufentscheidung und führen zu einem veränderten Kaufverhalten. Zum einen ermöglicht das Internet dem Kunden sich (fast) jedes weltweit verfügbare Produkt relativ schnell und einfach zu beschaffen. Zum anderen findet der Kunde im Internet eine umfangreiche Auswahl an Informationen, die ihn bei der Selektion des richtigen Produktes unterstützen. Der rationale Entscheidungsprozess wird durch detaillierte Produktinformationen, Testberichte und Produktbewertungen durch Kunden mit ähnlichen Präferenzen viel besser unterstützt, als bei der Beratung durch einen Händler. Aber auch hinsichtlich emotionaler Kaufmotive findet der Kunde im Internet Orientierung, da er Informationen über die Akzeptanz und Beliebtheit von Produkten innerhalb seiner Peer Group findet und somit Sicherheit bei der Kaufentscheidung erhält, da er mit dem Kauf eines Produkts z. B. Gruppenzugehörigkeit signalisieren kann. Das hat zur Folge, dass – analog zur Entkoppelung bei der Wertschöpfungskette des Handels – sich auch der Kaufentscheidungsprozess durch das Internet entkoppelt hat und die damit verbundenen Profite auf die einzelnen Wertschöpfungsstufen verteilen. Die zweite – für den Handel noch bedrohlichere – Konsequenz ist, dass durch das Internet zusätzlich eine Verschiebung der einzelnen Phasen im Kaufentscheidungsprozess stattgefunden hat und sich der Point of Decision vom Point of Sale losgelöst hat.

Fazit: Web-Exzellenz wird zum Kernerfolgsfaktor für den Handel

In der durch das Internet völlig neu definierten Handelslandschaft mit neuen Sortimenten, neuen Wettbewerbern, neuen Geschäftsmodellen und Erlösstrukturen sowie neuem Kundenverhalten und neuen Spielregeln, reicht es bei weitem nicht aus, das Internet als einen neuen Vertriebskanal zu verstehen. Jedes Handelsunternehmen, das auch zukünftig seine Marktanteile sichern und vom Marktwachstum profitieren will, muss mit Hilfe einer völlig neuen Strategie auf den veränderten Wettbewerb reagieren. Beispiele wie Hertie, Karstadt oder Quelle zeigten in 2009 deutlich, zu welchen Konsequenzen das Nichtreagieren führen kann. Somit wird Web-Exzellenz zum Kernerfolgsfaktor für den Handel. Nur die Händler – unabhängig von einem eigenen Online-Shop oder nicht – werden nachhaltig erfolgreich sein, die über eine exzellente Online-Strategie auf die Transformationen im Handel reagieren.

Somit zeigt sich, dass ein Multi-Channel-Konzept nicht zum Erfolg im Handel führt. Die Ergänzung der Vertriebskanäle um einen Online-Kanal ist, wie Martin Groß-Albenhausen bereits sagte, eine Ausschöpfungsstrategie und keine Wachstumsstrategie. Gerade klassische Versandhändler, die erfolgreich wachsen wollen, müssen sich strategisch für den Online-Handel entscheiden und diese Strategie entschieden und mit aller Kraft vorantreiben. Dazu ist es notwendig sich von tradierten Systemen, Prozessen und Deckungsbeitragsrechnungen zu verabschieden.

Mehr Informationen zum Thema „Wie das Internet den Handel revolutioniert und warum Web-Exzellenz Schlüsselthema für erfolgreiche Händler ist“ finden sich in dem Buch (hier eine Übersicht aller Beiträge des Buches).

2 Kommentare:

  1. Ich denke, dass Multi Channel irre schwierig ist! Dafür brauchst Du die richtigen Leute, die nicht da sind... Aber Multi Channel abzuschreiben, würde ich nicht. Auch reine Online Shops werben im TV, um Reichweite zu erhalten. Die Frage, die mich treibt, ist, ob in Zukunft die Personalisierung auch im Internet kommt?! Denn dann wird das Internet nur ein neuer schneller Channel...

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  2. Natürlich ist das schwierig, aber noch lange nicht unmöglich. Schließlich kann man auf mehrere Kanäle nicht verzichten wenn man erfolgreich Produkte vermarkten und absetzen will.

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